Wer könnte einen Nutzen davon haben? Und warum lassen sich Menschen so leicht für die absurdesten Theorien begeistern?
Ein unbekannter Nutzer eines Internet-Forums hat darauf eine simple aber einleuchtende Antwort parat:
“Wozu Verschwörungstheorien? Welchem Zweck dienen sie? Eigentlich dienen sie nur zur Unterhaltung.”
Unbekannt
Auf eine etwas wissenschaftlichere Erklärung hingegen sind wir im Online-Magazin des Conncetion-Verlags gestoßen:
“Um dies zu erklären, zitiert man am besten die "kürzestes Verschwörungstheorie aller Zeiten". Sie stammt – wer hätte es gedacht? – von Alt-Liedermacher Reinhard Mey:
“Der Minister nimmt flüsternd den Bischof beim Arm: Halt du sie dumm, ich halt sie arm.”
Reinhard Mey
Dieses Miniatur-Beispiel offenbart auf engem Raum bereits alles, was eine echte Verschwörungstheorie ausmacht: Komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge werden quasi "dramatisiert" und als absichtliches Vorgehen weniger Akteure interpretiert. Opfer der geheimnisvollen Absprache bin immer "ich", also der jeweilige Betrachter des Szenarios. Der scheinbaren Abwertung des kollektiven Ichs als "Marionette der Mächtigen", "Spielball" oder "Rädchen im Getriebe" steht immer auch ein Element der Selbstaufwertung gegenüber: Ich, der Verschwörungstheoretiker, bin den "grauen Herren" immerhin wichtig genug, dass sie ein ganzes System von Absprachen und subtiler Kontrolle um mich herum errichten.
Sind Verschwörungstheorien deshalb allesamt reine Einbildung, Auswüchse kranker Hirne? Der psychopathologische Terminus für ein derartiges Menschenbild ist längst gefunden: Paranoia. Es ist verhältnismäßig leicht, bei Anhängern von Verschwörungstheorien diverse psychische “Macken” aufzuspüren und ihr ganzes System mit Hinweis darauf zu entwerten.
Betrachten wir als sehr prominentes Beispiel Mohammed al Fayed, Vater von Dodi, Herzensprinzessin Dianas letzter Liebe. Dieser Mann hält bis heute daran fest, dass die beiden jung Verstorbenen Opfer eines Mordanschlags des britischen Establishments geworden sind. Zahlreiche Zeitungsanalysen wiesen seither darauf hin, dass Herr al Fayed nicht nur durch den Tod seines Sohnes traumatisiert war, sondern auch unter einem Minderwertigkeitskomplex litt, da ihn die britische High Society nie so ganz als einen der ihren akzeptiert hatte. Die Schuldzuweisung an geheimnisvolle Verschwörer half ihm (und überdies zahlreichen Diana-Verehrern), mit dem Unfassbaren und scheinbar Sinnlosen dieses Unfalltodes besser fertig zu werden.
Verworrene Projektion, düstere Paranoia?
Und wissen wir nicht auch von Fox Mulder, dem Helden der Kult-Serie “Akte X”, dass er, seit seine Schwester von Aliens entführt wurde, irgendwie einen "Schlag" weg hat und offenbar Schwierigkeiten, sich Frauen zu nähern? Besser als alle psychologischen Analysen hat der gute alte Theodor Fontane die Sache auf den Punkt gebracht:
“Und, Herze, willst du ganz genesen, Sei selber wahr, sei selber rein! Was wir in Welt und Menschen lesen, Ist nur der eigne Widerschein.”
Theodor Fontane
Ist also der Verschwörungstheoretiker zu einem solchen geworden, weil er unbewusst spürt, dass er selbst nicht vertrauenswürdig ist und dieses sein düsteres, verworrenes Wesen nun auf das Außen projiziert? Allzu gern würden wir es bei einer so einfachen, psychologisierenden Erklärung bewenden lassen. Solche Analysen sind ein legitimer Diskussionsbeitrag, wir sollten uns nur nicht einbilden, damit das Thema ein für alle Male erledigt zu haben oder gar eingefleischten Verschwörungstheoretikern ihr ausgefeiltes Gedankengebäude “weginterpretieren” zu können. Kennzeichen der Paranoia ist es ja gerade, dass das auf ihr gegründete System in sich schlüssig und perfekt ist.
Wer, so könnte man ganz im Geiste der Paranoia fragen, hätte denn ein Interesse daran, eine Psychologie zu kreieren, die Gegner der Establishments ausgrenzt und mit einem pathologisierenden Etikett versieht? Doch nur sie! Wem, glaubt ihr, nützt ein Artikel, in dem Verschwörungstheorien ironisch abgehandelt werden? Doch nur ihnen! In wessen Diensten, glaubt ihr, dass ich, der Autor in Wirklichkeit stehe? Glaubt ihr im Ernst, dass sie zulassen würden, dass auf dieser Erde ein Artikel erscheinen könnte, der ihnen ernsthaft Schaden zufügen könnte?
Verschwörung á la Hollywood
Habt ihr nun eine Gänsehaut bekommen, weil ihr – bei aller bemühten Ironie des Autors – das dunkle Gefühl hattet, dass “irgendwie” doch was dran sein könnte? Dann seid auch ihr vielleicht schon infiziert.
Verschwörungstheorien boomen. Sie sind Teil eines Zeitgeists, der – nach langer Schattenexistenz in den Randbereichen menschlichen Denkens – nun immer mehr den Mainstream unserer Kultur zu ergreifen beginnt. In Amerika sind sie geradezu zum Volkssport geworden, teilweise unernst, ironisch, spielerisch, teilweise aber auch mit unerbittlichem missionarischem Eifer betrieben. Filme geben beredtes Zeugnis davon, wie etwa “Fletchers Visionen” mit Mel Gibson, die Filme von Oliver Stone (“JFK”) oder unlängst “23 – Nichts ist wie es scheint”, in dem ein psychisch labiler Computer-Hacker von der Weltherrschaft der Illuminaten (“erleuchteter” Mitglieder von Geheimbünden) phantasiert und am Ende einem rätselhaften Attentat zum Opfer fällt.
Vor allem aber hat die schon erwähnte Serie “Akte X” die kollektive Paranoia angeheizt: Agent Mulder ist darin seit nunmehr fünf Jahren der schlimmsten aller denkbaren Verschwörungen auf der Spur: der Verschwörung gegen das amerikanische Volk – selbstverständlich unter Beteiligung höchster Regierungskreise. Was der Inhalt der genannten Verschwörung ist (z.B. die anstehende Kolonialisierung der Erde durch Außerirdische) scheint nebensächlich.
“Vertraue niemandem!”
Was daran fasziniert, ist die diffuse Atmosphäre von Bedrohung und existenzieller Unklarheit, der Nebel aus Fakten, die sich bei näherem Hinsehen als brüchig erweisen und aus Spekulationen, die plötzlich ungeahnt real werden: ein Spiegel unseres eigenen seelischen Zwiespalts im Übergang zwischen dem vorherrschenden wissenschaftlichen und dem heraufdämmernden “ganzheitlich-spirituellen”, dem Geheimnisvollen wieder mehr zugeneigten Weltbild.
“Vertraue niemandem!”, das Kult gewordene Pop-Mantra der Serie, ist, so Akte X-Erfinder Chris Carter, nichts anderes als ein Aufschrei der verletzten Kollektivseele, denn jeder, so Carter, möchte doch vertrauen können. Doch wem können wir noch vertrauen?
Früher bezogen sich Verschwörungstheorien stets auf Feinde von außen – Spione im Dienste des Klassenfeindes und Kriminelle waren die Protagonisten. Sie traten, wie der französische Filmheld “Fantomas”, in verschiedenen Masken auf. Nie wusste man, wem man trauen konnte, weil sich hinter jedem vertrauten Gesicht der Feind verbergen konnte. Immer aber gab es auch die klar konturierten Kräfte des “Guten”, in deren Hände man sich sorglos begeben konnte: der joviale Kommissar, der toughe Agent der “richtigen” Seite, der den Fall am Ende der Lösung zuführte.
An der Verlässlichkeit der eigenen, der “guten” (meist westlichen) Regierung und Staatsmacht bestand kein Zweifel.
Der Verlust “vertrauter Feinde”…
Heute hat sich das Bild gewandelt. Der Staat selbst wird zum Gegner, zur Bedrohung des einzelnen. Ein tief sitzendes Misstrauen greift um sich. Man traut “seinen” Politikern, Geheimdienstlern und Wirtschaftsvertretern buchstäblich alles zu: genetische Experimente an lebenden Menschen, die Auslieferung der Bürger an außerirdische Invasoren, Gedankenkontroll-Strahlen aus dem Fernsehapparat, Ausplünderung mittels Steuer- und Zinswucher sowieso.
Wem kannst du noch trauen, wenn die zu deinem Schutz Bestellten dich verraten? Dies ist die eigentliche, beängstigende Botschaft hinter “Akte X”.
Nicht zufällig entstand das “Akte-X-Lebensgefühl” nach dem Fall der Mauer und dem scheinbaren Verlust aller “vertrauten Feinde”, deren chronische Schurkenhaftigkeit vorher zu den verlässlichen Konstanten des Lebens gehörte.
Politische Verschwörungstheorien der Gegenwart sind auch eine Gegenreaktion auf den scheinbar in Erfüllung gegangenen, sich aber immer mehr zum Alptraum wandelnden Traum von der unangefochtenen Weltherrschaft der “Guten”, der bieder-bürokratischen Demokratien westlicher Prägung und ihrer zur Wirtschaftsdiktatur degenerierten kapitalistischen Strukturen.
Unabhängig davon, ob die “Neue Weltordnung” unter westlich-amerikanischer Hegemonie ein solch vernichtendes Urteil wirklich verdient und ob ihre Kritiker eine praktikable Alternative zu bieten haben – Verschwörungstheorien (insbesondere die von globaler Reichweite) signalisieren, dass sich Widerstand formiert. Teils noch tastend, ungelenk, überschwänglich idealistisch und nicht gefeit vor krassen Irrwegen (teilweise nationalistischer Stoßrichtung), aber doch vernehmlich und für eine gar nicht mehr so kleine Minderheit von misstrauisch Gewordenen durchaus verlockend."
Axel X – "Sie sind unter uns … Teil 1″, http://www.connection-medien.de
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